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Titel
Theoretische Reflexionen. Perspektiven der Europäischen Ethnologie


Herausgeber
Hinrichs, Peter; Röthl, Martina; Seifert, Manfred
Reihe
Reimer Kulturwissenschaften
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inga Wilke, Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Freiburg

Der Band widmet sich zwei grundlegenden Fragen: Welches Verhältnis hatte und hat die Europäische Ethnologie zu Theorie und Theoriearbeit? Und: Wie hängt dieses Verhältnis mit einem engagierten, politisch-eingreifenden Selbstverständnis als Disziplin und dem ihr eigenen Wissenschaftsverständnis zusammen?

Die Disziplin, die hier gemeint ist, hat sich vor wenigen Jahren für ihre Fachgesellschaft auf den Namen Empirische Kulturwissenschaft geeinigt; die 29 Institutsnamen im deutschsprachigen Raum bleiben bis dato jedoch heterogen. Da der Band sich so verortet, verwende ich im Folgenden die Bezeichnung Europäische Ethnologie für den beschriebenen Fachzusammenhang. Im Band sollen – wie die Einleitung mehrmals betont – „theorieaffine Fachvertreter∗innen“ versammelt werden, die aus dem Fach heraus „Theorie bildung“ (Hervorheb. im Original) im Sinne eines „‚Sich-zu-eigen-Machens‘ von Theorie“ (S. 16) betreiben.

Die Herausgeber:innen Peter Hinrichs, Martina Röthl und Manfred Seifert werfen in ihrer Einleitung fachgeschichtlich und wissenschaftstheoretisch informierte Blicke auf Diskussionen um „Theoriefeindlichkeit“ (S. 9) und Theoriearbeit in der Europäischen Ethnologie. Denn innerhalb der Nachfolgefächer der Volkskunde bleibt der Umgang mit dem Verhältnis von Theorie und Empirie ein beständiger Reflexionsgegenstand. Die Einleitung fokussiert vor allem auf das konstatierte innerdisziplinäre Narrativ der Theorieferne, dem der Band sich entgegenstellen will. Die Herausgeber:innen präsentieren einen Abriss zu disziplinären Positionierungen hinsichtlich und Anwendungen von Theorie, in dem sie dieses Thema fachgeschichtlich besonders in den 1970er-Jahren als „Stellvertreterkrieg gegen ein zu weit nach ‚links‘ abdriftendes Fachverständnis respektive gegen eine zu starke Hinwendung zu Soziologie und Kritischer Theorie“ (S. 9) deuten.

Ein Spezifikum des Fachs sei das Aufgreifen der Theorieangebote anderer Disziplinen, um „die eigene empirische Arbeit unter deren Licht zu verhandeln“ (S. 12). Der Prozess des Anpassens dieser Theorien an „die fachlichen Ansprüche, Bedürfnisse und Prämissen“ sei der „zentrale Modus europäisch-ethnologischer Theoriearbeit“ (S. 15). Das sei nichts Neues, aber es solle in den Beiträgen des Bandes als Verfahren im Detail ausgewiesen werden. Dabei gehe es auch darum, „kleinste gemeinsame Nenner“ (S. 26) für die Perspektiven und Positionen der Europäischen Ethnologie aufzuzeigen. Im Theorieverständnis wird immer auch das Fachverständnis mitverhandelt.

In ihrem Versuch, ein Tableau der verschiedenen Positionen und Bezüge über die Zeit hinweg zu entwerfen und noch dazu Begriffsarbeit zu Analyse, Reflexion und Heuristik zu leisten, gerät die Einleitung indes etwas unübersichtlich. Sie bleibt außerdem unentschlossen in der Frage, ob sie die Theorieferne als Konstrukt („ein Fachidentität stiftendes Narrativ“, S. 15) herausstellen will oder ob sie davon ausgeht, dass es tatsächlich eine Theorieferne in der Europäischen Ethnologie gibt, die es zu ergründen gilt.

Der Band ist nach der Einleitung in drei Teile gegliedert, die jeweils drei Beiträge und einen Kommentar umfassen. Die insgesamt neun Aufsätze wählen unterschiedliche Zugänge zum Vorhaben der Theoriearbeit: Es gibt Beiträge, die fachgeschichtlich argumentieren, einen Fokus auf Begriffsarbeit setzen oder im Stil eines Handbuchs analytische Kategorien vorstellen. Dadurch vermittelt der Band einen facettenreichen Eindruck dazu, wie unterschiedlich Theoriearbeit geleistet werden kann. Die Metapher des Werkzeugkastens, die sich in der Einleitung und in einzelnen Beiträgen wiederfindet, trifft somit auch auf den Band als Ganzes zu.

Im ersten Teil des Bandes, den „Reflexionsebenen“, widmet sich Ingo Schneider zunächst der wissenschaftlichen „Verantwortung“ einer kritischen Kulturwissenschaft. Er zeigt die Entwicklung des Konzepts in fachgeschichtlicher Perspektive und stellt sie für die Gegenwart als eine unabdingbare empathische Haltung heraus. Jens Wietschorkes Beitrag ist eine gelungene Diskussion der Begriffe „Aushandlung“ und „Kontext“ in Verbindung mit dem Struktur-Praxis-Problem. Er greift damit wesentliche europäisch-ethnologische Begriffe und Prämissen auf, die im wissenschaftlichen Alltagsgeschäft omnipräsent, aber unterreflektiert seien. In dem Beitrag werden keine Begriffe selbstständig theoretisch geprägt, wie es in der Einleitung als Ansinnen für den Band formuliert wird. Vielmehr legt der Autor fachinterne Konfliktlinien und Paradigmen indirekt offen und sucht nach einer versöhnenden Position zwischen ihnen. Ira Spieker zieht in ihrem Beitrag zu „Übersetzung“ Kooperationsprojekte als Beispiel heran, die sie in der polnisch-tschechisch-deutschen Grenzregion durchgeführt hat. Sie kann so zeigen, dass die Vermittlung immer auch eine Reflexion der eigenen Position erfordert, für die sie einen „Zwischenraum“ (S. 84) schafft. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein Kommentar von Sabine Eggmann und Friedemann Schmoll. Darin bestimmen die beiden Autor:innen Kulturwissenschaft auf Basis der drei Beiträge als „‚politische‘ Praxis“, „radikale analytische Relationierung“ und „kritisch reflexives Momento gegenüber jeglicher Kommunikation“ (S. 95).

Als „Alltagsdimensionen“, dem zweiten Abschnitt des Bandes, folgen drei Beiträge, die praxistheoretisch und erfahrungsbezogen perspektiviert sind. In seinem Beitrag zu „Erzählen, Wissen, Hegemonie“ schlägt Ove Sutter den Begriff „epistemische Sozialitäten“ (S. 107) vor, um die narrative Aushandlung von Wissen in Beziehungsgefügen zu fassen. Kaspar Maase argumentiert in seinem Beitrag, dass „alltagsästhetisches Erleben“ mit einer alltagspragmatischen Einstellung (im Gegensatz zur Schütz/Luckmann’schen theoretischen Einstellung) grundlegend zu erklären sei. Anhand der Verbindung von Elias’ Figurationsanalyse mit intersektionalen Herangehensweisen der Geschlechterforschung setzt sich Silvy Chakkalakal schließlich in ihrem Beitrag mit der gestalterisch-hervorbringenden und zeitlichen Dimension von Figurationen auseinander. In ihrem Kommentar schlussfolgern Monique Scheer und Brigitta Schmidt-Lauber, dass die Europäische Ethnologie als Alltagskulturwissenschaft den emotionalen und erfahrungsbasierten Bezug zu ihren Forschungsgegenständen unbedingt hochhalten sollte. Theorien sollten nicht nur als zweckmäßig-distanzierende Werkzeuge eingesetzt werden, sondern dürften „überzeugen und begeistern“ (S. 157).

Der dritte Teil, überschrieben mit „Heterogene Relationen“, enthält zunächst einen Beitrag von Gisela Welz zu „Assemblage“. Das Konzept ermögliche es, flüchtige und prozessual geprägte Elemente kultureller Dynamiken eine Zeitlang zu einer untersuchbaren Einheit zusammenzufassen. Neben Stadt- und Policy-Forschung der Europäischen Ethnologie zeichnet Welz die Potenziale des Konzepts auch für den interdisziplinären Zusammenhang der more than human-Ansätze nach. Anschließend widmet sich Moritz Ege dem Konzept der conjuncture („Konjunktur/Konstellation“) und seinen Vorteilen für das Theoretisieren von Relationalität vor dem Hintergrund von Krisen- und Spaltungsdiagnosen. Sabine Eggmann skizziert in ihrem Beitrag die Entwicklung des westlich-modernen Denkens vom Subjekt zu „empirisch nachzuvollziehenden Prozessen der Subjektivierung“ (S. 203), die sich mithilfe einer theoretisch offenen „europäisch-ethnologischen Kultur-Relationierung“ produktiv analysieren ließen. In ihrem den Band abschließenden Kommentar plädieren Johanna Rolshoven und Ingo Schneider für eine angewandte europäisch-ethnologische (aber nicht eurozentristische) Theoriearbeit, durch die sich die Disziplin in der komplexen Gegenwart positioniert: „Wir dürfen und können uns nicht auf die Position unparteiischer Beobachter∗innen zurückziehen.“ (S. 219)

Es gibt im Fach andere aktuelle Bände, die anhand eines glossarförmigen Aufbaus und eines bestimmten Textstils explizit zeigen wollen, wie theoretische Konzepte für die Europäische Ethnologie operationalisiert werden können. „Theoretische Reflexionen“ bespielt das Feld der Beschäftigung mit (Kultur-)Theorien und Konzepten noch einmal anders. Die Theoriearbeit, die im Band geleistet wird, befördert durch ihre begrifflichen Präzisierungen den inner- und interdisziplinären Austausch über verbreitete Konzepte. Der Band widerspricht der Ansicht, in der Europäischen Ethnologie herrsche eine anything goes-Haltung, indem er zeigt, wie mit der Anwendung die Reflexion von Potenzialen und Limitierungen von theoretischen Konzepten für bestimmte Felder und Fragestellungen einhergeht.

Der Band verortet sich zwar disziplinär, will dabei aber nicht die Illusion erwecken, es gebe eine Art Theoriekanon, den er abbilden oder entwerfen wolle. Es sind „Theoretische Reflexionen“, die im Band von Vertreter:innen der Europäischen Ethnologie geleistet werden – und nicht Theorien der Europäischen Ethnologie. Der Band hält somit, was Titel und Untertitel erwarten lassen. Er bietet unterschiedliche Antworten auf die Frage, was eine „Theoriebildung europäisch-ethnologischer Färbung“ (S. 26) konkret ausmacht. Der Leserin werden verschiedene lohnende Zugänge angeboten: Sie kann mithilfe der Einleitung tiefer in fachgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Entwicklungen einsteigen, kann sich anhand der Beiträge gezielt mit theoretischen Konzepten beschäftigen und durch die Kommentare über grundsätzlichere Fragen zu Selbstverständnis der Europäischen Ethnologie und ihren Aufgaben für die Zukunft nachdenken. Insgesamt stellt der Band Einblicke in das Wie der Theoriearbeit in der Europäischen Ethnologie zusammen, ohne dabei ihre Eigenheiten einebnen oder allgemeingültige Antworten liefern zu wollen.

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